(3) Wahrheit

Wahrheit ist ein heikles Thema. Ein Thema mit vielen ganz unterschiedlichen Sichtweisen. Ein Thema, das nicht nur kontrovers diskutiert werden kann, sondern vor allem Fanatiker auf den Plan ruft und in Rage geraten lässt.

Der Grund, warum dieses Thema immer wieder für Zündstoff sorgt ist die weit verbreitete Ansicht, es gebe nur eine objektive Wahrheit – und natürlich führt diese Ansicht zum Streit unter denjenigen, die behaupten die objektive, einzige Wahrheit zu kennen und in deren Besitz zu sein – deren Wahrheiten sich doch ganz offenbar deutlich voneinander unterscheiden.

Da gibt es zum Beispiel die Gruppierung der Zeugen Jehovas, die ihre Bibelauslegung ganz ungeniert als „Die Wahrheit“ bezeichnen. Dies stößt bei anderen religiösen Strömungen nicht wirklich auf Gegenliebe – denn natürlich sind sie alle der Ansicht im Besitz der Wahrheit zu sein. Und wenn man davon ausgeht, dass es nur eine Wahrheit gibt, dann sind Dissonanzen vorprogrammiert.

Dabei hat schon der buddhistische Philosoph Nagarjuna vor fast 2000 Jahren erkannt: „Es gibt nur eine falsche Sicht der Dinge: nämlich der Glaube, meine Sicht der Dinge sei die einzig richtige“. Ersetzt man „Sicht der Dinge“ durch „Wahrheit“, kommt man der Wahrheit schon sehr nahe.

Schon aus der Analyse von Zeugenaussagen nach einem Verkehrsunfall wird deutlich: obwohl es nur ein Geschehen gab, können die Aussagen mehrerer Zeugen diametral auseinander liegen. Da variiert die Farbe der beteiligten Fahrzeuge von rot bis dunkelblau, da werden sowohl die Fahrtrichtungen, als auch die Geschwindigkeiten der beteiligten Fahrzeuge ganz unterschiedlich beschrieben und den Stand der Ampel zum Zeitpunkt des Geschehens kann sich der aufnehmende Beamte quasi selbst aussuchen. Was also ist die Wahrheit? Was ist wirklich geschehen? Gibt es eine objektive Wahrheit? Und wie kommen so unterschiedliche Wahrnehmungen zustande?

Natürlich gibt es für das Beispiel des Verkehrsunfalls schon eine Wahrheit – denn natürlich hat sich das Geschehen auf eine eindeutige Weise zugetragen und die Umstände waren zum Zeitpunkt des Geschehens ebenfalls eindeutig. Zumindest sagt uns das unser logischer Verstand. Und hätten Kameras das Geschehen aus verschiedenen Blickwinkeln aufgenommen, würden sich vermutlich viele Ungereimtheiten klären.

Aber es gibt auch Beispiele, die zeigen, dass es nicht immer möglich ist zu entscheiden, ob es tatsächlich eine objektive Wahrheit gibt. Auch nicht für rein physikalische Vorgänge – also ganz unabhängig von Meinungen, Vorstellungen und Ansichten – ist dies spätestens seit der Entwicklung der Quantenmechanik ein anerkanntes Phänomen – und Problem.

Die Naturwissenschaften haben erkannt, dass sich ein physikalischer Zustand bei genauer Betrachtung nicht wirklich eindeutig beschreiben lässt. Für viele physikalische – oder auch chemische – Vorgänge bedient man sich daher des Konzepts der Wahrscheinlichkeiten. Zustände werden dabei nur noch mit einer Wahrscheinlichkeit beschrieben – andere Zustände werden damit vielleicht unwahrscheinlicher, aber nicht völlig ausgeschlossen.

Die Frage ist nun, warum es für uns Menschen manchmal schwierig ist eine objektive Wahrheit – wenn es sie denn überhaupt gibt – auch zu erkennen. Und ist dieses Erkennen bereits für objektiv beschreibbare Vorgänge schwierig – wie schwierig muss es dann erst für Ansichten, Meinungen, Vorstellungen sein, die ja unserer ganz persönlichen Interpretation und Beeinflussung Tür und Tor öffnen?

Die Ursache liegt zunächst aus rein biologischer Sicht in einer Gehirnstruktur begründet, die als „Thalamus“ bezeichnet wird. Aufgrund seiner Funktion wird der Thalamus auch gerne das „Tor zum Bewusstsein“ genannt.

Der Thalamus ist unser wichtigster Filter, der entscheidet, welche Informationen unser Bewusstsein erreichen sollen und welche ins Unterbewusstsein geschoben werden und für uns erst einmal nicht bewusst zur Verfügung stehen. Ohne diesen Filter würden wir von einer gigantischen Flut von Sinnesreizen überrollt werden, die unser bewusstes Gehirn wohl kaum in der Lage wäre zu verarbeiten. So filtert der Thalamus unter dem, was unser Ohr, unser Auge und unsere übrigen Sinnesrezeptoren tatsächlich aufnehmen das heraus, was für unser tägliches oder augenblickliches Überleben wichtig ist – alle anderen Eindrücke werden im Unterbewusstsein gespeichert, verarbeitet oder auch gelöscht.

Auf diese Weise ist es ganz natürlich, dass wir von den Dingen, die um uns herum geschehen, immer nur einen Teil tatsächlich wahrnehmen. Und es wird verständlich, warum jeder Mensch – dessen Thalamus auf seine ganz eigene, persönliche Art und Weise filtert – seine Umgebung etwas anders wahrnimmt. So ist es bereits auf einen ganz einfachen, rein biologischen Filter zurückzuführen, dass sich unsere Wahrnehmung der Umwelt im Detail unterscheidet – also für unser Bewusstsein nicht eine, nicht die Wahrheit existiert, sondern jeder Mensch seine eigene, ganz individuell gefilterte Wahrheit erlebt.

So schrieb Heinrich von Kleist, als er dies wohl erkannte (ohne je vom Thalamus gehört zu haben) an seine geliebte Wilhelmine:
„… Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, … nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge so zeigt, wie sie sind …“ Und er schrieb weiter: „… So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist …“.

Kleist war hier mit seiner Erkenntnis bereits einen Schritt weiter. Die rein biologische Erklärung über die Filterfunktion des Thalamus reicht nicht aus um die Unterschiede zwischen Deiner Wahrheit und meiner Wahrheit zu verstehen. Denn im Grunde lässt der Thalamus ja immerhin einen Teil einer scheinbar objektiven Wahrheit in unser Bewusstsein treten. Und selbst wenn sich der Thalamus bzw. seine Filterfunktion von Mensch zu Mensch unterscheidet, so müsste es zumindest immer viele Überlappungen verschiedener Wahrnehmungen geben. Ist das so?

Tatsächlich wird all das, was unser Thalamus in unser Bewusstsein treten lässt nochmals von unserem Gehirn in ganz individueller Art und Weise verarbeitet. Ganz entscheidend dabei ist unser persönliches Werte-System – unser Gehirn vergleicht jede eingehende Information sofort mit unserem Erfahrungsschatz und beginnt mit einer Bewertung der Information. Schließlich gelangt in unser Bewusstsein nicht, was tatsächlich ist, sondern eine durch unser eigenes Gehirn mehr oder weniger manipulierte Information – das was sein kann, sein darf, sein soll, sein muss. Es ist eine Interpretation der aufgenommenen und bereits gefilterten Information, abgeglichen mit unserer Erwartung, eingeordnet in unsere Bewertung, mit konfabulationsgleichen (erfunden, ohne Realitätsbezug) Interpolationen lückenhafter Bereiche.

Wir müssen uns also damit abfinden, dass das, was wir als „Wahrheit“ erleben, tatsächlich nur ein verzerrtes Bild dessen ist, was wirklich ist – gleich einem Blick durch eine Milchglasscheibe, durch die wir nur schemenhaft erkennen können, was draußen geschieht. So bleibt unsere Wahrnehmung unsere ganz persönliche Wahrheit, die sich in aller Regel von der Wahrheit des Anderen unterscheidet – manchmal nur marginal, oft jedoch auch ganz erheblich.

So bleibt die Frage offen, ob es eine einzige objektive Wahrheit tatsächlich gibt. Sicher ist, dass sie sich zumindest unserer Wahrnehmung entzieht und konsequenter Weise jeder Mensch seine eigene Interpretation, seine eigene Wahrheit erlebt. Und da wir nicht entscheiden können, welche dieser Wahrheiten einer objektiven Wahrheit am meisten ähnelt, müssen wir akzeptieren, dass alle Wahrheiten gleichberechtigt sind. Meine Wahrheit ist ebenso wahr, wie Deine Wahrheit. Niemand kann wirklich entscheiden, welche Wahrheit die richtigere ist. Viele versuchen es – und doch ist alles nur Illusion.

Edgar Allen Poe schrieb: „All that we see or seem – is but a dream within a dream”. Frei übersetzt: “Alles was wir sehen – oder was uns so erscheint – ist nur ein Traum in einem Traum.”

Wir sind immer wieder versucht andere Menschen von unseren Wahrnehmungen, unserer Sicht der Dinge, unserer Wahrheit zu überzeugen oder gar zu überreden. Weil wir nicht verstehen, nicht verstehen wollen, dass unsere Sicht der Dinge nicht die einzig richtige sein muss. Wenn wir uns jedoch bewusst machen, dass auch die Sicht des Anderen ihre Berechtigung hat und meine Wahrheit möglicherweise nicht die einzig richtige ist – wie viele Diskussionen, wie viel Fanatismus, wie viele Kriege bleiben uns dann erspart?

Nehmen wir an, dass unsere Wahrheit tatsächlich nur ein Traum in einem Traum ist – dann lasst uns einfach weiter in Frieden träumen – träum‘ weiter, Mensch …

Ralf

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Jutta

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Karin

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